...Beziehungen, Freundschaften, Ehen...Kinder. Um letztere soll es in diesem Bericht gehen. Zu diesem Thema sind wohl einige Bücher veröffentlicht, finden Platz in Diplomarbeiten und sind im Internet verbreitet. Aber andererseits wird dieses Thema – Kinder in suchtbelasteten Lebensgemeinschaften – gerne „unter den Teppich gekehrt“. Einerseits aus Scham, aber es wird vielfach verdrängt, mit der Behauptung: „Mein Kind hat nichts gemerkt.“
In Deutschland leben 2.65 MillionenKinder bei denen ein Elternteil eine alkoholbezogene Störung (Missbrauch oder Abhängigkeit) aufweist.
Es ist längst üblich, dem Lebenspartner eines Suchtkranken therapeutische Hilfe anzubieten. Er findet auch Platz in den zahlreichen Selbsthilfegruppen. Doch die Kinder, die am schlimmsten unter der Sucht zu leiden haben, wie meine Ausführungen gleich zeigen werden, bleiben auch hier meistens „auf der Strecke“.
Mein Bericht soll aber keine moralische Wertung sein. Schließlich sind die zerstörerischen Effekte krankheitsbedingt geschehen. Aber das soll einen auch nicht bestärken, sich jetzt im abstinenten Zustand aus der Verantwortung zu ziehen.
Mein Artikel wird aus Platzgründen an manchen Stellen nur stichpunktartig sein. Ich hoffe aber, dass der eine oder andere, der Kinder hat, dabei Verbindungen in seiner eigenen Suchtgeschichte sieht.Direkte (substanzbezogene) oder indirekte Folgen können Kinder treffen. Wobei die indirekten Auswirkungen den größeren Anteil haben. Ein fetales Alkoholsyndrom entsteht durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und kann durch 100% Verzicht verhindert werden. Bis ins 19. Jahrhundert hinein bestand noch der Volksglaube: „ Entscheidend für eine Idiotie des Kindes ist die Berauschung der Eltern im Moment der Zeugung.“ Behinderungen durch eine Alkoholembryoapathie sind nicht-genetisch bestimmt. Die Folgen können sein: körperliche Missbildungen, Störungen des Zentralnervensystems, sowie kognitive (=Prozesse wie Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Urteilen usw.) Störungen:
Entwicklungsverzögerung, Koordinations-, Konzentrations-, Gedächtnisstörungen, Hyperaktivität und Schlafstörungen, gestörtes Sozialverhalten.
Zu den substanzbezogenen Folgeerscheinungen gehören auch Alkoholvergiftungen in der Kindheit.Aber wie eingangs schon erwähnt bilden die indirekten Effekte ein weitaus größeres Feld. Das Schlimmste was ein Kind wohl erfahren kann, ist die familiäre Gewalt, die einerseits zwischen den Eltern herrscht oder die Aggressionen, die es selber treffen kann. Weiter sind zu nennen: Unfälle, Verletzungen, Vernachlässigung, Missbrauch, der am häufigsten seelischer Art ist. Die Kinder übernehmen Aufgaben, die ihrem Alter nicht entsprechen, verdrängen eigene Interessen und elementare Bedürfnisse.
An dieser Stelle will ich Aussagen wiedergeben, die von Kindern aus suchtbelasteten Familien am häufigsten gemacht werden:
1) Nicht zu Freunden gehen, um nicht in die Zwangslage zu geraten, diese zu sich nach Hause einladen zu müssen, wo sie sich vor ihren Eltern schämen.
2) Andere Kinder beneiden, die ein harmonisches Elternhaus haben.
3) Sich als Kind unter Gleichaltrigen isoliert, abgewertet und einsam fühlen.
4) Sich von den Eltern vernachlässigt, sogar als ungewolltes Kind fühlen.
5) Für die Eltern sorgen, sich um sie ängstigen, besonders wenn die Mutter süchtig trinkt.
6) Sorgen um Trennungsabsichten oder vollzogene Trennungen.
7) Den Süchtigen für sein Fehlverhalten entschuldigen.
Aber jetzt wieder zu den Auswirkungen, die auftreten können, wenn Vater oder/und Mutter suchtkrank sind: soziale Isolation, sozialer Abstieg, familiäre Disharmonie ( es gelten unter Anderem keine Familienregeln, das Einzige worauf sich Kinder verlassen können ist die Unzuverlässigkeit), zahlreiche negative (kritische) Ereignisse, Leistungsprobleme in der Schule (die Kinder sind mit den Gedanken meisten zu Hause, was dort schlimmes geschehen ist oder noch passieren wird), aber auch soziale Probleme mit anderen Schülern (Prügeleien auf dem Schulhof oder Schulweg).
Auf dieser Basis, dem suchtbelasteten Elternhaus, entwickeln dann Kinder eine Persönlichkeitsstruktur, die ihnen eine besondere Rolle in der Familie bzw. unter den Geschwistern zuschreibt.
Das erste Kind ist meistens der Held - übernimmt die Pflichten und Aufgaben eines erwachsenen, ist überverantwortlich, verlangt auch viel von sich selbst und hat deshalb Probleme, den eigenen Anforderungen gerecht zu werden.
Das zweite Kind ist oft der Sündenbock – da die Hauptaufmerksamkeit in der Familie auf dem ersten Kind liegt, versucht das zweitgeborene, die Aufmerksamkeit durch entgegengesetztes Verhalten auf sich zu lenken. Es bringt sich durch unverantwortliches und gleichgültiges Verhalten selber in Schwierigkeiten.
Das dritte Kind ist oft ein Träumer – es versucht nicht aufzufallen, ist schüchtern, hat keine eigene Meinung, geht Konflikten aus dem Weg. Seine Welt ist der Tagtraum. Ist immer der Ansicht, anders zu sein als alle anderen.
Das vierte Kind ist oft der Clown – es lenkt durch Albernheiten vom eigentlichen Missstand in der Familie ab. Es wird dadurch allerdings oft nicht für voll genommen.Weitere Varianten sind die Rolle des Friedensstifters oder des Chamäleons, des Übererwachsenen, des Distanzierten und – sie gibt es wirklich – die Unverletzten. Sie sehen, was in der Familie passiert und vollziehen die Verleumdung der Abhängigkeit eines Elternteils nicht mit. Es ist von sich aus in der Lage, Veränderungen einzuleiten, um ein gesundes eigenes Leben zu führen.
Für alle anderen Kinder aber wird in den Familien ein Grundstein gelegt, der sie als erwachsener Mensch selber in Alkohol- oder Drogenabhängigkeit führt. Ferner besteht für sie das Risiko, eine psychische Störung zu erleiden (z.B. Ängste, Depressionen, Schizophrenien). Es wurde auch belegt, dass viele Borderline-Patienten in Suchtfamilien aufgewachsen sind.
Viele stellen fest, dass sie, entgegen ihrer Absichten, ein ähnliches Leben führen, wie die Eltern. Etwas, was sie um jeden Preis verhindern wollten. Aber sie haben in der Kindheit gelernt.
Was ist in der Kindheit passiert?
- Sie haben gelernt, sich besser nicht an alles so genau oder überhaupt zu erinnern.
- Sie haben gelernt, blitzschnell auf neue Situationen zu reagieren.
- Sie haben gelernt, niemandem zu vertrauen.
- Sie haben gelernt, dass Lügen zum Alltag gehören.
- Sie haben gelernt, sich an Extreme anzupassen
- Sie haben gelernt, besonders gut zu schauspielern.
- Sie haben gelernt, dass sie keinen Schutz bekommen.
- Sie haben gelernt, ignoriert und übersehen zu werden.
- Sie haben gelernt, als Kind die Erwachsenen zu schützen.
- Sie haben gelernt, mit niemand über ihr Leben zu reden.
- Sie haben gelernt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen, die ihnen in der Familie zugeteilt wird.
- Sie haben gelernt, Unangenehmes zu verdrängen.
- Sie haben gelernt, dass Geborgenheit ein vages Gefühl von Chaos bedeutet.
- Sie haben gelernt, sich endlos allein zu fühlen.
- Sie haben gelernt, sehr früh erwachsen zu reagieren.
- Sie haben gelernt, sich in Phantasiewelten wohler zu fühlen, als im wirklichen Leben.
- Sie haben gelernt, Gefühle zu zeigen, die sie nicht haben.
- Sie haben gelernt, Gefühle zu unterdrücken und verleugnen, die sie haben.
- Sie haben gelernt, Spielball zwischen den Eltern zu sein.
- Sie haben gelernt, im Stich gelassen zu werden.
- Sie haben gelernt, immer davor Angst haben zu müssen, plötzlich allein gelassen zu werden.
- Sie haben gelernt, sich wertlos zu fühlen.
Doch Kinder haben auch Rechte:
AUS DEM EUROPÄISCHEN Aktionsplan Alkohol (1995)
Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht, in einer Umwelt aufzuwachsen, in der sie vor den negativen Begleiterscheinungen des Alkoholkonsums und soweit wie möglich vor Alkoholwerbung geschützt werden
Alle alkoholgefährdeten oder alkoholgeschädigten Bürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Zugang zu Therapie und Betreuung.
AUSZÜGE AUS DER UN-KINDERRECHTSKONVENTION
(20. NOVEMBER 1989)
Artikel 19 (Schutz vor Gewaltanwendungen, Misshandlungen, Verwahrlosung)
Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bil dungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.
Diverse Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die dem Kind und denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maßnahme zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1 beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte.
Artikel 27 (Angemessene Lebensbedingungen; Unterhalt)
Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an.
Artikel 33 (Schutz vor Suchtstoffen)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen