Dienstag, 20. Dezember 2011

Hoffnung am Niederrhein

Ein Weg aus der Abhängigkeit führt auch durch eine Entwöhnungstherapie in einer Fachklinik für Suchtkranke. Vielfach besteht die Notwendigkeit der fachlichen Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen. Der erste Schritt in Richtung Abstinenz ist in der Regel eine Entgiftung, die man in jedem Krankenhaus mit einer Station der Inneren Medizin machen kann. Hierbei geht es jedoch nur darum die körperlichen Symptome des Entzugs erträglich zu machen. Effizienter ist jedoch eine qualifizierte Entzugsbehandlung, die man auf entsprechenden Fachstationen in psychiatrischen Kliniken oder in Fachkliniken, wie das St.Camillus in Duisburg-Walsum, durchführen kann. 
Nach einer Entgiftung bleiben 20% der Patienten dauerhaft abstinent!
Diese Stationen sind auf Suchterkrankungen spezialisiert und bieten neben der rein körperlichen Behandlung auch viele inhaltliche Gesprächsangebote zum besseren Verstehen der Suchterkrankung. Allerdings bleiben nach einer Akutbehandlung im Krankenhaus nur 20% der Patienten dauerhaft abstinent. Eine bessere Quote erreicht man mit anschließender stationären oder ambulanten Therapie (50%). Geht man dazu noch in eine Selbsthilfegruppe liegt der Erfolg bei 85%.
Nach anschließender Langzeittherapie liegt die Quote bei 50%. Mit zusätzlichem Besuch einer Selbsthilfegruppe erreichen 85% eine dauerhafte Abstinenz!
 An dieser Stelle möchte ich nun die Fachklinik St. Camillus vorstellen, die sich im nördlichen Stadtteil von Duisburg, Alt-Walsum, befindet. Inmitten einer ruhigen Vorstadtsiedlung mit Einfamilienhäusern hat die Klinik die Adresse Kirchstraße 12, direkt neben der katholischen Kirche. Ein Steinwurf weit, hinter dem alten Walsumer Hafenbecken, der Niederrhein. Für ausgedehnte Spaziergänge bieten sich die Rheinauen - ein malerisches Naturschutzgebiet - an. Im Hauptgebäude sind die Akutstationen und die Motivationsstation sowie die Fachambulanz untergebracht. Im Keller befinden sich die Physiotherapie mit ihren Behandlungsräumen, ein Sportraum mit Fitnessgeräten und Tischtennisplatten sowie ein kleiner Kiosk. Die Grundsteinlegung dieses Gebäudes ist schon lange Geschichte. Die Fachklinik für Suchtkranke hat ihren Namen aus der Zeit übernommen, als das Gebäude noch ein Krankenhaus für die Allgemeinversorgung der Bevölkerung von Duisburg-Walsum beherbergte. Im zweiten Weltkrieg war es als Lazarett umfunktioniert. 

Der Name der Klinik erklärt sich aus der Tatsache, dass St. Camillus, der zu den sogenannten Caritasheiligen zählt, im Jahr 1742 selig, 1746 von Papst Benedict XIV. heilig gesprochen und letztendlich im Jahr 1930 von Papst Pius XI. zum Patron aller Krankenschwestern und ihrer Vereinigungen erklärt wurde. Angesichts des Umstands, dass Camillus von Lellis, der während seiner Zeit als Soldat, zunächst in venezianischen Diensten, wo er am Krieg gegen die Türkei teilnahm, später im Dienst der Spanier, der Spielsucht verfallen war und all seine Habseligkeiten verspielt und vertrunken hatte, spricht dann für die Namensgebung einer Suchtklinik.
Neben dem Hauptgebäude gibt es vier Stationen, in denen die stationären Therapiegruppen – im St. Camillus EWO 1 – 4  genant - untergebracht sind; ferner finden sich hier auch die Holzwerkstatt der Arbeitstherapie, das Atelier für die Kunsttherapie, ein Specksteinraum, ein großer Bewegungstherapieraum. In der alten Kapelle ist die Tagesklinikgruppe untergebracht. Eine Teestube, die ehrenamtlich von früheren Patienten betrieben wird, bietet einen suchtmittelfreien Raum nicht nur für Patienten der Klinik. Allerdings wird sie in diesem Jahr ausgedient haben und in den anliegenden Neubau umziehen. Auf dem weitläufigen Gelände, das nach fast allen Seiten offen ist, finden sich ein Garten mit Gewächshäusern, ein Pavillon mit Grill, Biotop, Sportplatz, Tischtennisplatte und Bocciabahn, sowie großzügige Rasenflächen.
Doch wenn bisher nur von Gebäuden, Räumlichkeiten und Außenanlagen die Rede war, so sind es doch die Menschen, die suchtkranken Menschen, die im Mittelpunkt dieser Institution stehen und denen die Aufmerksamkeit gilt. Neben den stationären Behandlungsmöglichkeiten im Akutbereich gibt es die Gelegenheit täglich eine offene Sprechstunde in der Fachambulanz aufzusuchen. Hierzu reicht eine Überweisung des Hausarztes, ein Termin muss für die offene Sprechstunde nicht extra abgesprochen werden (montags, mittwochs und freitags von 9-10 Uhr, dienstags und donnerstags von 17.30-18.30 Uhr). Hier werden nicht nur alkohol- und medikamentenabhängige Menschen beraten, es gibt auch ein spezielles Angebot für pathologische Spieler. Die Akutstationen 1 und 2 bieten qualifizierte Entzugsbehandlungen an. Wobei auf der Station 1 die Patienten aufgenommen werden, die ein ausgeprägtes, chronifiziertes Krankheitsbild aufweisen, d.h. die häufiger eine Behandlung in Anspruch nehmen müssen und die man im Allgemeinen oft entwertend „Drehtürpatienten“ nennt. Wobei ich hierbei bemerken möchte, dass diese Menschen noch eine Überlebenschance haben, solange sie diese Tür noch selber drehen können. Häufig werden sie, selbst von abstinenten Alkoholikern, diskreditiert. Ein Verhalten was ich allerdings ablehne. Denn wer gibt mir das Recht, über diese Menschen zu urteilen? Wenn bei diesen Patienten das Feuer Hoffnung nur als Glut glimmt, so kann es auch bei richtigem Wind wieder angefacht werden, was heißen soll, dass man diese Menschen nicht einfach aufgeben darf.
Die Akutstation 2 nimmt in der Regel Patienten auf, die sich einer Erstbehandlung unterziehen. Die qualifizierte Entzugsbehandlung findet hier je nach medizinischer Notwendigkeit mit oder ohne medikamentöser Unterstützung statt. Angeboten wird wenn vom Patienten gewollt auch eine Akupunkturbehandlung zur Erleichterung des Entzuges, mit der die Klinik bislang sehr gute Erfolge erzielen konnte.
Seit dem 1. Juli 2000 existiert die Akut 3 im St. Camillus als Entzugsstation, auf der drogenabhängige Menschen behandelt werden, bei denen ambulante Hilfe durch niedergelassene Ärzte und Drogen-Beratungsstellen nicht ausreichen. Es ist eine Abteilung, die 12 Patienten für 2 bis 3, je nach Schwere des akuten Entzugssyndroms, auch bis zu 6 Wochen aufnehmen und behandeln kann. Zum Schutz der Patienten und um dem Gefühl des eingeschlossen seins entgegen zu wirken, wird die Station halboffen geführt. Sie ist von innen nach außen offen, aber von außen nach innen geschlossen.
Seit dem 1.Juli 2006 gibt es eine Motivations-Station im Camillus!
Die jüngste Abteilung im Haupthaus ist die Motivationsstation mit 12 Plätzen, die vor fünf Jahren ihre ersten Patienten begrüßen konnte. Sie ist allerdings nicht als Therapiestation zu sehen, sondern dient unter anderem der intensiven Information über das Krankheitsbild Alkoholismus und der Vorbereitung auf Therapie. Es ist nicht automatisch möglich, die Motivationsstation im Anschluss an eine Akutbehandlung aufzusuchen, Patienten müssen über ihren Hausarzt oder ihre Beratungsstelle angemeldet werden und erhalten dann einen Aufnahmetermin. Während der Motivationsbehandlung kann ohne Zeitverzug eine Entwöhnungstherapie beantragt und dann sofort anschließend begonnen werden, in der Fachklinik St. Camillus entweder stationär oder auch in der Tagesklinik; Patienten werden unter Umständen aber auch an andere Kliniken überwiesen, wenn z.B. die Kapazitäten des Camillus ausgeschöpft sind oder andere Indikationen eine Rolle spielen. So ist es sicher oft adäquater, eine Frau die Gewalt erfahren hat, in eine reine Frauenklinik weiter zu leiten. Um einige Zahlen zu nennen, so machen 70% der Patienten davon gebrauch eine mehrwöchige Entwöhnungstherapie direkt im Anschluss zu beginnen, 10% werden in eine ambulante Therapie vermittelt, 10% finden Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe und Suchtberatungsstelle und die restlichen 10% unternehmen nichts weiteres. 

Wenn in der Überschrift von Hoffnung die Rede ist, so ist es die Hoffnung der Patienten, die sich in die Obhut dieser Institution St. Camillus begeben, um ein abstinentes Leben führen zu können. Allerdings ist das kein leichtes Unterfangen und Therapie kann durchaus harte Arbeit sein. Abstinenz bekommt man hier nicht, und in keiner anderen Fachklinik, geschenkt.     
Wie ich schon erwähnt habe, hat man hier im St. Camillus die Möglichkeit die Therapie entweder stationär oder in der Tagesklinik durchzuführen. Sicherlich spielen hierbei individuelle Aspekte eine Rolle, welche Therapieform die jeweils richtige ist, dies wird im Vorfeld intensiv zusammen besprochen. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass nach Therapieende der Patient in seine gewohnte alltägliche Umgebung zurückkehrt, die Therapieinhalte sind für stationäre oder tagesklinische Patienten gleich.
Wie muss man sich einen gewöhnlichen Tag in der Klinik vorstellen? Eine Therapiegruppe, EWO genannt, besteht aus 12 Patienten und zwei Therapeuten. Sie leben ähnlich wie in einer Wohngemeinschaft zusammen, wo sie gemeinsam die Mahlzeiten einnehmen und sich ebenfalls zu den Gruppentherapien treffen. Es wird ein Gruppensprecher gewählt, der die Gruppe in der Hausversammlung vertritt, die einmal in der Woche am Freitag zusammentrifft. Sicherlich dient diese Aufenthaltsform therapeutischen Absichten. Patienten lernen soziale Kompetenzen, die häufig im Lauf der nassen Phase abhanden gekommen ist. Man bekommt Aufgaben zugeteilt und muss so Verantwortung tragen. Wird man als Gruppensprecher gewählt, so fördert dieses Amt das Selbstbewusstsein. So ist im Grunde genommen auch die Zeit nach den Therapien Therapiezeit; nur ohne therapeutische Begleitung. 
Zentraler Punkt der Behandlung ist die Gruppentherapie!
Die Gruppentherapie in der EWO findet mehrmals in der Woche statt und ist zentraler Punkt der Behandlung, begleitend werden regelmäßige Einzelgespräche angeboten.
Aber trotz der Gemeinschaftspflege wird auf den einzelnen Patienten individuell Rücksicht genommen. Die Indikationsgruppen sprechen da für sich, denen die Patienten symptomatisch zugeordnet werden. Angeboten werden Skill Training, Frauen- und Männergruppe, Berufsgruppe für arbeitslose Patienten, Selbstsicherheitstraining, Depressionsbewältigung und Holzgruppe.
Patienten die nicht mehr im Berufsleben stehen haben hier in der Klinik die Möglichkeit die Strukturierung ihres Tagesablaufs beim Freizeitkompetenztraining zu erlernen. Bei Bedarf wird auch Hirnleistungstraining angeboten.
Feste Therapiebausteine für alle Patienten sind die Kunsttherapie im offenen Atelier, Sport- und Bewegungstherapie, wobei hier auf dem physischen Allgemeinzustand der Patienten Rücksicht genommen wird. Das Entspannungstraining wird in der ersten Hälfte der Therapiezeit mit meditativem Malen ausgefüllt und in der zweiten Hälfte erlernen die Patienten wie man Stress bewältigt. Wenn ich bei dem Thema Lernen bleiben will, so darf ich nicht vergessen zu erwähnen, dass an zehn Terminen eine Gesundheitsinfo stattfindet, bei der man einiges Wissen über die Krankheit Alkoholismus erfährt.
In der Arbeitstherapie gibt es die Möglichkeit einen PC-Kurs zu absolvieren, oder man findet Beschäftigung in der Schreinerwerkstatt und bei Gartenarbeit. Patienten deren berufliche Wiedereingliederung ansteht, haben die Gelegenheit in einem Zeitrahmen von zwei Wochen an einer Arbeitsbelastung teilzunehmen. 
Angehörige können in die Therapie mit einbezogen werden! Paargruppe, Paar- und Familiengespräche, Angehörigentage!
Doch auch die Angehörigen können in die Therapie mit eingebunden werden. So findet alle 14 Tage eine Paargruppe statt. Paar- und Familiengespräche können mit dem zuständigen Therapeuten individuell abgesprochen werden.  Während eines Angehörigentags können nicht nur Anverwandte einen halben Tag den Klinikalltag erleben. Natürlich ist es jedem Angehörigen, Freund oder Bekannten freigestellt, den Patienten auf den EWOs zu den festgelegten Besuchszeiten einen Besuch abzustatten.
Der Kontakt zu den Selbsthilfegruppen wird sehr befürwortet, es wird den Patienten ermöglicht, schon während der Therapie in den letzten 6 Behandlungswochen seine SHG am Wohnort aufzusuchen. Ebenso gehört es zum Klinikalltag, dass sich Selbsthilfegruppen auf den Akutstationen und im Entwöhnungsbereich vorstellen. Einmal im Jahr findet in der Klinik ein Auswertungsgespräch mit Vertretern der verschiedenen Selbsthilfeorganisationen statt.
Der Kontakt zu Selbsthilfegruppen wird befürwortet!
Natürlich finden die Patienten hier einen sicheren Raum vor. Im Allgemeinen spricht man von der Sicherheit unter der Käseglocke. Aber trotzdem kommt es vor, dass selbst unter diesen geschützten Rahmenbedingungen Patienten rückfällig werden. Das wird allerdings nicht als Versagen angesehen sondern als Chance. In einem Rückfallprogramm nach Körkel kann dieser Rückfall aufgearbeitet werden. Man spricht von einem 5 Punkte-Programm. In einem ersten Schritt kommt der Patient erst einmal auf die Akutstation, um ihn aber auch um seine Gruppe zu schützen. In einem zweiten Schritt bespricht er dann den Rückfall mit seinem Gruppentherapeuten. Danach hat er sich der Bezugsgruppe zu erklären. Der vierte Punkt ist dann ein Gespräch mit dem Therapeutenteam, hier stellt es sich dann heraus, ob eine Weiterbehandlung stattfinden kann, was allerdings in den meisten Fällen sinn macht. Eine Entscheidung wird aber an Ort und Stelle ausgesprochen. Für eine Weiterbehandlung ist aber Voraussetzung, dass der Patient sich für den fünften und letzten Punkt entscheidet und sich in der Hausversammlung erklärt. Sinn und Zweck ist unter anderem, zu seinem Rückfall zu stehen und eventuellen Gerüchten Einhalt zu gebieten.
Rückfall = Chance kein Versagen!
Seit Oktober 2009 hat eine interessante Therapieform – die Rückfallmanagementgruppe (12 Patienten und 2 Therapeuten) - Einzug in die Klinik gefunden. Es geht dabei darum, nicht nur theoretisches Wissen zu vermitteln. Patienten sollen dazu gebracht werden sich mit Verlangen und Suchtdruck auseinander zusetzen. Im Rahmen dieser Therapie werden unter Anderem einzelne Patienten mit ihrem Suchtmittel konfrontiert, um in einem geschützten Raum die Erfahrung zu ermöglichen, dass Suchtdruck automatisch auftreten kann, aber auch wieder weggeht, man diesen bewältigen kann ohne wie unter Zwang trinken zu müssen. Das Empfinden wird vom Patienten bewertet, auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 10 (extremer Suchtdruck). Die Teilnahme an der Gruppe ist verpflichtend, die Konfrontation jedoch freiwillig. Patienten, die sich dieser Therapieform unterzogen haben, sind aufmerksamer und vorsichtiger, was den Kontakt mit Alkohol angeht.
Doch so sicher auch das Leben unter der „Käseglocke“ ist, so ist es doch nur auf relativ kurze Dauer. So wie die Konfrontationstherapie darauf hinzielt, die Zeit nach der Behandlung sicher zu bewältigen, so werden Patienten wenn es eben möglich ist zwei bis drei Wochen vor der Entlassung in den Tagesklinik-Status  behandelt. Das bedeutet, sie bleiben in ihrer Gruppe, allerdings nur bis zum Zeitpunkt des täglichen Therapieendes. So wird die Entlassung in den Lebensalltag abgefedert. Zur Entlassungsvorbereitung gehört auch die Vermittlung in Nachsorge, je nach Bedarf des Patienten. Die ehemaligen Patienten treffen sich noch einmal im Monat (immer der erste Mittwoch) mit ihrem „alten“ Gruppentherapeuten, und einmal im Jahr – immer der zweite Samstag im Juni – findet ein großes Sommerfest statt.
An dieser Stelle möchte ich mich bei Dipl. Psychologin Frau Niewendick bedanken, die mir hilfreiche Antworten gab, die diesbezüglich des Artikels im Raum standen.

Freitag, 18. November 2011

Sucht zerstört...

...Beziehungen, Freundschaften, Ehen...Kinder. Um letztere soll es in diesem Bericht gehen. Zu diesem Thema sind wohl einige Bücher veröffentlicht, finden Platz in Diplomarbeiten und sind im Internet verbreitet. Aber andererseits wird dieses Thema – Kinder in suchtbelasteten Lebensgemeinschaften – gerne „unter den Teppich gekehrt“. Einerseits aus Scham, aber es wird vielfach verdrängt, mit der Behauptung: „Mein Kind hat nichts gemerkt.“ 
In Deutschland leben 2.65 Millionen
Kinder bei denen ein Elternteil eine alkoholbezogene Störung (Missbrauch oder Abhängigkeit) aufweist.
Es ist längst üblich, dem Lebenspartner eines Suchtkranken therapeutische Hilfe anzubieten. Er findet auch Platz in den zahlreichen Selbsthilfegruppen. Doch die Kinder, die am schlimmsten unter der Sucht zu leiden haben, wie meine Ausführungen gleich zeigen werden, bleiben auch hier meistens „auf der Strecke“.
Mein Bericht soll aber keine moralische Wertung sein. Schließlich sind die zerstörerischen Effekte krankheitsbedingt geschehen. Aber das soll einen auch nicht bestärken, sich jetzt im abstinenten Zustand aus der Verantwortung zu ziehen.
Mein Artikel wird aus Platzgründen an manchen Stellen nur stichpunktartig sein. Ich hoffe aber, dass der eine oder andere, der Kinder hat, dabei Verbindungen in seiner eigenen Suchtgeschichte sieht.
Direkte (substanzbezogene) oder indirekte Folgen können Kinder treffen. Wobei die indirekten Auswirkungen den größeren Anteil haben. Ein fetales Alkoholsyndrom entsteht durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und kann durch 100% Verzicht verhindert werden. Bis ins 19. Jahrhundert hinein bestand noch der Volksglaube: „ Entscheidend für eine Idiotie des Kindes ist die Berauschung der Eltern im Moment der Zeugung.“ Behinderungen durch eine Alkoholembryoapathie sind nicht-genetisch bestimmt. Die Folgen können sein: körperliche Missbildungen, Störungen des Zentralnervensystems, sowie kognitive (=Prozesse wie Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Urteilen usw.) Störungen:  
Entwicklungsverzögerung, Koordinations-, Konzentrations-, Gedächtnisstörungen, Hyperaktivität und Schlafstörungen, gestörtes Sozialverhalten.
Zu den substanzbezogenen Folgeerscheinungen gehören auch Alkoholvergiftungen in der Kindheit.
Aber wie eingangs schon erwähnt bilden die indirekten Effekte ein weitaus größeres Feld. Das Schlimmste was ein Kind wohl erfahren kann, ist die familiäre Gewalt, die einerseits zwischen den Eltern herrscht oder die Aggressionen, die es selber treffen kann. Weiter sind zu nennen: Unfälle, Verletzungen, Vernachlässigung, Missbrauch, der  am häufigsten seelischer Art ist. Die Kinder übernehmen Aufgaben, die ihrem Alter nicht entsprechen, verdrängen eigene Interessen und elementare Bedürfnisse. 
An dieser Stelle will ich Aussagen wiedergeben, die von Kindern aus suchtbelasteten Familien am häufigsten gemacht werden:
 
1)      Nicht zu Freunden gehen, um nicht in die Zwangslage zu geraten, diese zu sich nach Hause einladen zu müssen, wo sie sich vor ihren Eltern schämen.
2)      Andere Kinder beneiden, die ein harmonisches Elternhaus haben.
3)      Sich als Kind unter Gleichaltrigen isoliert, abgewertet und einsam fühlen.
4)      Sich von den Eltern vernachlässigt, sogar als ungewolltes Kind fühlen.
5)      Für die Eltern sorgen, sich um sie ängstigen, besonders wenn die Mutter süchtig trinkt.
6)      Sorgen um Trennungsabsichten oder vollzogene Trennungen.
7)      Den Süchtigen für sein Fehlverhalten entschuldigen.


Aber jetzt wieder zu den Auswirkungen, die auftreten können, wenn Vater oder/und Mutter suchtkrank sind: soziale Isolation, sozialer Abstieg, familiäre Disharmonie  ( es gelten unter Anderem keine Familienregeln, das Einzige worauf sich Kinder verlassen können ist die Unzuverlässigkeit), zahlreiche negative (kritische) Ereignisse, Leistungsprobleme in der Schule (die Kinder sind mit den Gedanken meisten zu Hause, was dort schlimmes geschehen ist oder noch passieren wird), aber auch soziale Probleme mit anderen Schülern (Prügeleien auf dem Schulhof oder Schulweg).
Auf dieser Basis, dem suchtbelasteten Elternhaus, entwickeln dann Kinder eine Persönlichkeitsstruktur, die ihnen eine besondere Rolle in der Familie bzw. unter den Geschwistern zuschreibt.
Das erste Kind ist meistens der Held - übernimmt die Pflichten und Aufgaben eines erwachsenen, ist überverantwortlich, verlangt auch viel von sich selbst und hat deshalb Probleme, den eigenen Anforderungen gerecht zu werden. 
Das zweite Kind ist oft der Sündenbock – da die Hauptaufmerksamkeit in der Familie auf dem ersten Kind liegt, versucht das zweitgeborene, die Aufmerksamkeit durch entgegengesetztes Verhalten auf sich zu lenken. Es bringt sich durch unverantwortliches und gleichgültiges Verhalten selber in Schwierigkeiten.
Das dritte Kind ist oft ein Träumer – es versucht nicht aufzufallen, ist schüchtern, hat keine eigene Meinung, geht Konflikten aus dem Weg. Seine Welt ist der Tagtraum. Ist immer der Ansicht, anders zu sein als alle anderen.
Das vierte Kind ist oft der Clown – es lenkt durch Albernheiten vom eigentlichen Missstand in der Familie ab. Es wird dadurch allerdings oft nicht für voll genommen.
Weitere Varianten sind die Rolle des Friedensstifters oder des Chamäleons, des Übererwachsenen, des Distanzierten und – sie gibt es wirklich – die Unverletzten. Sie sehen, was in der Familie passiert und vollziehen die Verleumdung der Abhängigkeit eines Elternteils nicht mit. Es ist von sich aus in der Lage, Veränderungen einzuleiten, um ein gesundes eigenes Leben zu führen.
Für alle anderen Kinder aber wird in den Familien ein Grundstein gelegt, der sie als erwachsener Mensch selber in Alkohol- oder Drogenabhängigkeit führt. Ferner besteht für sie das Risiko, eine psychische Störung zu erleiden (z.B. Ängste, Depressionen, Schizophrenien). Es wurde auch belegt, dass viele Borderline-Patienten in Suchtfamilien aufgewachsen sind.
Viele stellen fest, dass sie, entgegen ihrer Absichten, ein ähnliches Leben führen, wie die Eltern. Etwas, was sie um jeden Preis verhindern wollten. Aber sie haben in der Kindheit gelernt.
 
Was ist in der Kindheit passiert? 
  • Sie haben gelernt, sich besser nicht an alles so genau oder überhaupt zu erinnern. 
  • Sie haben gelernt, blitzschnell auf neue Situationen zu reagieren. 
  • Sie haben gelernt, niemandem zu vertrauen. 
  • Sie haben gelernt, dass Lügen zum Alltag gehören. 
  • Sie haben gelernt, sich an Extreme anzupassen 
  • Sie haben gelernt, besonders gut zu schauspielern. 
  • Sie haben gelernt, dass sie keinen Schutz bekommen. 
  • Sie haben gelernt, ignoriert und übersehen zu werden. 
  • Sie haben gelernt, als Kind die Erwachsenen zu schützen. 
  • Sie haben gelernt, mit niemand über ihr Leben zu reden. 
  • Sie haben gelernt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen, die ihnen in der Familie zugeteilt wird. 
  • Sie haben gelernt, Unangenehmes zu verdrängen. 
  • Sie haben gelernt, dass Geborgenheit ein vages Gefühl von Chaos bedeutet.
  • Sie haben gelernt, sich endlos allein zu fühlen. 
  • Sie haben gelernt, sehr früh erwachsen zu reagieren. 
  • Sie haben gelernt, sich in Phantasiewelten wohler zu fühlen, als im wirklichen Leben. 
  • Sie haben gelernt, Gefühle zu zeigen, die sie nicht haben. 
  • Sie haben gelernt, Gefühle zu unterdrücken und verleugnen, die sie haben. 
  • Sie haben gelernt, Spielball zwischen den Eltern zu sein. 
  • Sie haben gelernt, im Stich gelassen zu werden. 
  • Sie haben gelernt, immer davor Angst haben zu müssen, plötzlich allein gelassen zu werden. 
  • Sie haben gelernt, sich wertlos zu fühlen. 

Doch Kinder haben auch Rechte:


AUS DEM EUROPÄISCHEN Aktionsplan Alkohol (1995)
Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht, in einer Umwelt aufzuwachsen, in der sie vor den negativen Begleiterscheinungen des Alkoholkonsums und soweit wie möglich vor Alkoholwerbung geschützt werden

Alle alkoholgefährdeten oder alkoholgeschädigten Bürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Zugang zu Therapie und Betreuung.


AUSZÜGE AUS DER UN-KINDERRECHTSKONVENTION      
 (20. NOVEMBER 1989)

Artikel 19 (Schutz vor Gewaltanwendungen, Misshandlungen, Verwahrlosung)

Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bil dungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.

Diverse Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die dem Kind und denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maßnahme zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1 beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte.


Artikel 27 (Angemessene Lebensbedingungen; Unterhalt)

Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an.


Artikel 33 (Schutz vor Suchtstoffen)

Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen einschließlich Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um Kinder vor dem unerlaubten Gebrauch von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen im Sinne der diesbezüglichen internationalen Übereinkünfte zu schützen und den Einsatz von Kindern bei der unerlaubten Herstellung dieser Stoffe und beim unerlaubten Verkehr mit diesen Stoffen zu verhindern.

Dienstag, 12. Juli 2011

Weshalb ist Selbsthilfe so wichtig?

Selbsthilfegruppen gibt es in verschiedenen Organisationen. Die bekanntesten sind Anonyme Alkoholiker (AA), Kreuzbund, Freundeskreise, Blaues Kreuz, und Guttempler. In Eigeninitiative werden aber auch unabhängige Selbsthilfegruppen gegründet, denen Räumlichkeiten von Gemeinden oder Kirchen zur Verfügung gestellt werde

In der Gruppe soll das gesichert und fortgesetzt werden, was in der Entgiftung und der Entwöhnungsbehandlung in die Wege geleitet wurde. Man kann es auch so ausdrücken: In der ambulanten oder stationären Therapie wird nur das Gesellenstück angefertigt, die Meisterprüfung sollte mit langjährigen abstinenten Gruppenmitgliedern angestrebt werden.

Nirgendwo sonst stehen alkoholkranken Menschen zu jeder Zeit Gleichgesinnte zur Seite die mit ihrer jahrelangen Selbsterfahrung, in sehr vielen Lebenslagen helfen können. Und nur deshalb, weil sie gleiche oder ähnliche Situationen schon erlebt und positiv gelöst haben.

Außer der Selbsthilfegruppe bringt kaum eine andere Gemeinschaft dem Abhängigen soviel wahres Verständnis entgegen und bestärkt ihn in seiner Abstinenz. Manch einer glaubt, er braucht kein Verständnis und keine Bestärkung, aber das heißt in Wirklichkeit, dass er entweder ein wichtiges Bedürfnis des Menschen leugnet oder bereits anderweitig damit versorgt ist.

Es ist falsch zu glauben, die Selbsthilfegruppe sei nur für die Hilfsbedürftigen da, die allein im Leben nicht zurechtkommen. Im Gegenteil: Die meisten gut laufenden Abstinenzgruppen, bestehen größtenteils aus lebensfrohen, aktiven Mitgliedern, die weder in der Arbeit, Freizeit noch Familie größere Probleme haben. Trotzdem profitieren alle von der Gruppe.

Der meiner Meinung nach wichtigste Faktor ist, gemeinsam lernen ohne Alkohol fröhlich und lebensbejahend sein. Nur wenn ich gerne ohne Alkohol lebe wird eine zufriedene Trockenheit erreiche, die dann über Jahre durch den Erfahrungsaustausch Bestand hat.

E. Rieth, ehemaliger Di- rektor der Kliniken Ringgenhof und Höchsten, bemerkte dazu sehr treffend: Nur wer sich die Mühe macht, diese Gruppen näher kennen zulernen, kann ihr Angebot zur Kenntnis nehmen und ein Urteil darüber gewinnen, ob sie ihm an der entscheidenden Stelle weiterzuhelfen imstande sind. Wer diese Frage bejaht, übernimmt damit auch ein Stück Verantwortung für diesen Kreis.

Er/sie muss aus der bequemen, nörgelnden Konsumhaltung heraustreten und zum aktiven, kritischen Mitragen, zur Mitarbeit unter Einsatz seiner Gaben und Kräfte kommen. Im Dienst für die anderen kann er/sie dann reifen. Die Alkoholkrankheit ist für ihn Durchgangsstufe zum wahren Leben geworde

Die Alkoholkrankheit als Durchgangstufe zum wahren Leben?

Viele zufriedene trockene Alkoholabhängige, die regelmäßig die Gruppe besuchen, dazu zähle auch ich, empfinden ihre Krankheit als eine Chance. Denn hier habe ich nicht nur Weggefährten oder Leidensgenossen getroffen, sondern bin emotionale Bindungen eingegangen, die ich als gefühlsblockierter Mensch (als „Normaler Mensch“) nie eingegangen wäre, oder empfunden hätte. Diese so gefundenen Freundschaften bestimmen heute mein Leben. Ohne sie wäre ich wohl wieder in den Kreislauf des Alkoholismus zurückgefallen. Meine jetzigen Empfindungen könnte ich endlos fortführen. So gestärkt bin ich nur durch die Gruppe geworden.

Reinhold Adam

Sonntag, 24. April 2011

Der Weinstock trägt drei Trauben

Der Weinstock trägt drei Trauben: Die erste bringt die Sinneslust, die zweite den Rausch, die dritte das Verbrechen.“ (Epiket, 60-140 n. Chr.)




Sucht und Gewalt

Statistiken
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik wurden im Jahr 2008 von insgesamt 159.178 aufgeklärten Fällen im Bereich der Gewaltkriminalität 52.381 Fälle (32,9%) unter Alkoholeinfluss verübt (2007: 27%). Insbesondere bei den schweren und gefährlichen Körperverletzungsdelikten (44.691 Fälle), deren Anteil im Vergleich zum Vorjahr von 34% auf 34,5% wieder leicht angestiegen ist, ist der Anteil vergleichsweise hoch.

Alkohol und Gewalt in der Partnerschaft
Mehr als jeder dritte Frau (37%) in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer einer Gewalttat. Über die Hälfte (51%) der männlichen Täter standen bei der Ausübung der körperlichen Gewaltakte unter Alkoholeinfluss.
Folgen: Um Gewaltakte und psychische Belastungen auszuhalten, greifen viele Frauen auf Alkohol und Medikamente – Schlaf- und Beruhigungsmittel – zurück.

Kinder aus suchtbelasteten Familien
In Deutschland wachsen 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in suchtbelasteten Familien auf. Das sind in dieser Altersgruppe 18%. Nachweislich kommt es gerade in solchen Familien zu überproportionalen häufigen gewalttätigen Übergriffen gegen Kinder. Sie sind über Gebühr sexueller Gewaltakte und emotionaler Gewalt ausgesetzt. Häufig werden sie Zeuge von häuslicher Gewalt (60%). Jedes dritte Kind aus suchtbelasteten Familien erfährt diese Gewaltakte regelmäßig.
Folgen: Nach wissenschaftlichen Studien haben Kinder aus suchtbelasteten Familien das sechsfache Risiko, selber Alkoholabhängig zu werden. Ebenfalls werden Kinder, die Gewalt durch Alkoholeinfluss erlebt haben, in vielen Fällen später selber zu Tätern.

Alkohol und Gewalt unter Jugendlichen
Aus dem Jahresbericht der LKA Niedersachsen - Jugendkriminalität und Jugendgefährdung – geht hervor, dass der Anteil der jugendlichen Tatverdächtigen bei den Gewalttaten unter Alkoholeinfluss bei 11% liegt.
Bei Jungen im Alter von 13 bis 17 Jahren sind 1/3 der Gewalttaten alkoholbedingt, bei den gleichaltrigen Mädchen sind es sogar 2/3. Ca. 50% der Jungen und 40% der Mädchen mit problematischem Alkoholkonsum sind gefährdet, Opfer von Gewaltakten zu werden.
Folgen: Langzeitstudien haben belegt, dass Alkoholkonsum im frühen Jugendalter zu späterer Gewaltakzeptanz führt und im Gegensatz dazu, Gewaltverhalten im Jugendalter zu späterem Alkoholkonsum führt.

Gewalt und Alkohol in der Öffentlichkeit
Bei Großveranstaltungen wie Sport, Karneval oder bei Volksfesten haben laut Polizeiaussage mindestens die Hälfte der Beteiligten an Gewaltausschreitungen vorher Alkohol konsumiert. Fast die Hälfte aller Verstöße gegen die öffentliche Ordnung (46,1%), wie Ruhestörung und Vandalismus geschehen unter Alkoholeinfluss.
Folgen: Mehrere deutsche Städte hatten beschlossen, ein Alkoholverbot an bestimmten Wochentagen und bestimmten Plätzen auszusprechen.
(Quelle: www.aktionswoche-alkohol.de/hintergrund-alkohol/gewalt.html)